
Kosteneffizienz ist das zentrale Dogma bei der Produktion von Medikamenten. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern gibt es strikte Regelungen, um Preisanstiege bei der medizinischen Grundversorgung zu deckeln.
Deswegen hat die Pharmaindustrie in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend auf eine globale Vernetzung der Lieferketten gesetzt. Gut 60 Prozent der Wirkstoffe (API), insbesondere für generische Medikamente, stammen heute aus Asien, und zwar überwiegend aus China und Indien, während im EU-Raum etwa 28 Prozent hergestellt werden. Um weiter Kosten zu senken, haben viele Unternehmen ihre Produktion auf wenige Standorte konzentriert.
So gibt es in Europa nur noch wenige Werke, die Antibiotika herstellen. Wenn es zu Produktionsstörungen oder außergewöhnlich starken Infektionswellen kommt, kann dies schnell zu Versorgungsengpässen führen – so wie zum Beispiel im vergangenen Winter, als Eltern verzweifelt Fiebersaft für ihre Kinder suchten.
Wie die Pharmaindustrie mit KI auf Lieferengpässe reagieren kann
Um die Versorgung mit Medikamenten sicherzustellen, ist ein strukturierter Ansatz erforderlich, der sowohl kurzfristige als auch langfristige Maßnahmen umfasst. Ein entscheidender Faktor ist dabei der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI).
Diese Technologien können helfen, Risiken frühzeitig zu erkennen und die Effizienz der Lieferketten zu steigern. Zudem können sie Handlungsszenarien entwickeln, die eine Grundlage für strategische Entscheidungen legen.
Kurzfristig: Implementierung eines systematischen Risiko-Managements
Die meisten Pharmaunternehmen haben ihr Risikomanagement in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Sie verfügen heute über klar definierte Prozesse und Risk Committees, um schnell reagieren zu können und bei Bedarf direkt zu handeln.
Angesichts der hohen Konzentration speziell in der Wirkstoffproduktion reichen herkömmliche Methoden des Risiko-Managements jedoch nicht aus, um potenzielle Engpässe vorherzusagen und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Jedoch sind APIs hohen Risiken ausgesetzt: Neben der Branchenkonzentration führen enge gesetzliche Rahmenbedingungen sowie lange Test- und Freigabeverfahren oft dazu, dass Pharmaunternehmen nur einen einzigen Lieferanten für einen Wirkstoff qualifiziert haben (Single Sourcing). Fällt dieser Lieferant überraschend aus, entsteht unweigerlich eine Lücke, die nicht so schnell zu füllen ist.
Individuelles Risikoprofil
Angesichts dieser Kritikalität ist es sinnvoll, das konkrete Risiko für jedes API individuell zu definieren. Das ist möglich mit einer spezialisierten KI-gestützten Software, die für jedes API das Risikoprofil in den zwei Dimensionen Risikowahrscheinlichkeit und -auswirkung dezidiert berechnet. Durch den Einsatz des KI-gestützten Analysetools können große Mengen an Daten mit hoher Geschwindigkeit ausgewertet werden.
Die Software berücksichtigt externe Faktoren wie politische Instabilitäten, Naturkatastrophen oder Engpässe bei Rohstoffen sowie interne Daten, etwa Umsatz, Absatzmengen und Produktstrategie. Auch Lieferantendaten über Preise, Qualität und Liefersicherheit werden einbezogen. Aus all diesen Daten wird ein präzises Risikoprofil für jeden Wirkstoff samt Handlungsempfehlungen erstellt. Dadurch bieten solche Analysewerkzeuge Einkäufern eine fundierte Entscheidungsgrundlage, um präventive Maßnahmen zu ergreifen.
Mittelfristig: Durchgängige Koordination der Bestell- und Lagerhaltungsprozesse
Die cross-funktionale Koordination zwischen den Abteilungen Einkauf, Logistik und Vertrieb ist ein weiterer wichtiger Faktor, um Lieferengpässe zu vermeiden. Hier kann ein KI-unterstütztes Warenmanagement zu einer besseren Übersicht über Lagerbestände und Bestellungen führen. KI kann bei der Erstellung von Vorhersageszenarien unterstützen, z.B. wann ein bestimmtes Medikament knapp wird, und automatisch Bestellungen anlegen oder alternative Lieferanten identifizieren.
Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz von KI zur Analyse des Bestellverhaltens von Kunden (z.B. Krankenhäusern, Großhändlern). Basierend auf historischen Daten und aktuellen Trends kann KI frühzeitig dabei helfen zu identifizieren, welche Medikamente in naher Zukunft knapp werden, und rechtzeitig Maßnahmen vorschlagen.
Langfristig: Diversifizierung durch strategische Partnerschaften oder Insourcing
Langfristig sollte die Pharmaindustrie ihre Beschaffungsstrategien weiterentwickeln. Die starke Marktposition chinesischer API-Hersteller birgt Risiken für die Liefersicherheit. Es ist zu erwarten, dass eine neue amerikanische Administration unter Donald Trump noch robuster in der Handelspolitik gegenüber China auftreten wird – mit nicht klar vorhersagbaren Folgen für Lieferketten. Es ist daher systematisch zu bewerten, welche langfristigen, strategischen Lösungen (wie Lieferantendiversifizierung und -partnerschaften, Nearshoring, Insourcing) wirtschaftlich tragfähig und umsetzbar sind.
Strategische Partnerschaften mit Herstellern zum Aufbau von Produktionsstätten in verschiedenen Weltregionen können eine Lösung sein, wenn man die Wirkstoffe nicht selbst herstellen kann oder will. In diesen Fällen ist zu erwarten, dass Produzenten Abnahmegarantien verlangen, um sicherzugehen, dass sich getätigte Investitionen rentieren. Auch hierbei kann KI unterstützen, etwa indem sie auf Basis bestehender Strukturen die optimale Allokation von Produktionsstätten und die Optimierung der Logistikstrategien vornimmt.
Die Rückverlagerung der Produktion essenzieller Wirkstoffe nach Europa verringert grundsätzlich die Abhängigkeit von Produzenten aus Asien. Staatliche Förderprogramme können Anreize schaffen, um die Produktion von APIs wieder verstärkt in Europa anzusiedeln. Durch eine solche Förderung kann Insourcing und damit die Nutzung eigener Kapazitäten für viele Pharmaunternehmen eine zunehmend interessante Handlungsoption werden.
Fazit: KI kann Lieferketten stabilisieren
Lieferengpässe bei Medikamenten stellen eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit dar. Die Pharmaindustrie muss diese Herausforderungen aktiv angehen, um die Versorgungssicherheit in Europa und weltweit zu gewährleisten. KI kann dabei als Schlüsseltechnologie dienen, um Risiken frühzeitig zu erkennen und die Effizienz der Lieferketten zu steigern.
Mittelfristig sollte die Digitalisierung der Bestell- und Lagerhaltungsprozesse vollendet werden, um eine lückenlose Koordination zu gewährleisten. Langfristig ist es notwendig, Beschaffungsstrategien weiterzuentwickeln und über strategische Partnerschaften oder Insourcing nachzudenken. Auch der Staat ist hier gefragt, entsprechende Rahmenbedingungen und Anreize sicherzustellen.
Über die Autoren
Nicolas Willmann ist Managing Director bei Inverto, der auf Einkauf und Lieferkettenmanagement spezialisierten Tochter der Boston Consulting Group. Er leitet im Unternehmen die Practice Area Healthcare und berät Kunden aus der Pharmaindustrie und der Medizintechnik bei umfassenden Einkaufstransformations- und Effizienzprojekten.
Stefan Oprée ist Managing Director bei Inverto am Standort Köln und verantwortlich für den Industriesektor Biopharma. Er berät Kunden aus diesem Bereich zu Einkaufstransformationen, Kostenmanagementprogrammen und Lieferkettenmanagement.




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